Meine Flucht über die Ostsee

Vorwort zum Artikel von Anita Oppitz geb. Schmude

Angeregt von den Berichten über das Flüchtlingselend im Mittelmeerraum entschließe ich mich zur Veröffentlichung eines Erlebnisberichtes meiner Schwester aus dem Jahres 1945. Damit will ich darauf aufmerksam machen, dass die Ursachen für das Elend der betroffenen Menschen  damals wie heute  in der  menschenverachtenden Politik der Vertreter des Wirtschafts- und Finanzkapitals und ihrer Handlanger zur Erzielung von Maximalprofiten liegt. Erstaunlich ist dabei, wie die Massen immer wieder auf die gleichen Propagandatricks dieser Clique hereinfallen wie Nationalismus, Rassismus, Erfindung von Feindbildern, religiöse Vorurteile, Lügen, Geschichtsfälschungen, um nur einige des reichhaltigen Instrumentariums der politischen Überzeugungsarbeit auch führender  Parteien zu nennen. Die gegenwärtige politische Lage in der Welt hat sich zugespitzt; öffentlich wird von der Notwenigkeit der weiteren militärischen Aufrüstung gesprochen; ein schwerbewaffnetes US-Amerikanisches Expeditionskorps übt den modernen Krieg unmittelbar vor dem Territorium Rußlands.  Als Zeitzeuge und Betroffener  der Folgen des 2. Weltkrieges graust mir vor dem Szenarium eines noch schlimmeren Krieges mit atomarer Waffentechnik, der in erster Linie ein nicht mehr bewohnbares Europa hinterlassen würde.  Das muß verhindert werden!      Diese Meinung wird von großen Teilen  der Bevölkerung vertreten. Wir erwarten von den Politikern, dass sie sich bedingungslos für eine Politik des Friedens entscheiden.

Meine Flucht über die Ostsee

Anita Oppitz, geb. Schmude

1943 wurde ich als Zivilangestellte auf dem Flak-Schießplatz in Stolpmünde dienstverpflichtet. Unter anderem schrieb ich täglich den Wehrmachtsbericht mit der Schreibmaschine ab, und danach wurde auf der großen Generalstabskarte die sich täglich verändernde Front im Westen und im Osten abgesteckt. So erlebte ich besonders deutlich, wie die Feinde von beiden Seiten immer näher rückten und ahnte, daß  wir einem schrecklichen Schicksal entgegen gingen. Anfang März 1945 war es dann soweit, daß alle auf dem Schießplatz dienstverpflichteten Frauen mit Schiff über die Ostsee in Sicherheit gebracht werden sollten . Auch das militärische Personal des Schießplatzes war in diese Absetztaktion einbezogen. Am 6. März frühmorgens fuhren uns Busse zum Hafen von Ostseebad Stolpmünde. Meine Freundin Inge und ich  sowie zwei weitere Mädel nahmen uns vor, unbedingt zusammenzubleiben und einander nicht im Stich zu lassen.

 Wegen starken Seegangs konnte unser Frachter am gleichen Tag jedoch nicht auslaufen, und wir mußten uns deshalb noch eine weitere Nacht im Parkhotel aufhalten. Um dem überfüllten Massenquartier und dem Kampieren auf harten Stühlen bzw. auf dem Fußboden wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen, begaben wir vier Mädels uns in die Lotsenstation am Hafen, wo bekannte Soldaten Dienst machten. Dort wurden wir nicht nur  mit großem Hallo empfangen, sondern für die vor uns liegende

Schiffsreise mit ganzen Dauerwürsten und Schinken versorgt, die von den vielen Trecks aus Ostpreußen und Hinterpommern zusammen mit den Fluchtwagen  zurückgelassen worden waren, weil  es auf den verstopften Straßen nur noch zu Fuß und mit Handgepäck weiter ging. Wie froh waren wir in den nächsten Tagen auf See über diese zusätzliche Marschverpflegung, denn an Bord mußte sich jeder selbst versorgen.

Am nächsten Tag, dem 7. März morgens, ging unsere Seereise dann endlich los. Vor der Gangway des Schiffes hatte sich eine gewaltige Menschenmenge eingefunden, die an Bord des Schiffes drängte. Mehr geschoben als gegangen, erreichte ich das Deck. Auch meine drei Kolleginnen hatten es geschafft. Nicht jeder hatte dieses Glück und mußte unter Tränen zurückbleiben.  Unser Frachter hatte 1200 Menschen aufgenommen, wobei eine zulässige Anzahl von nur 500 Personen vorgesehen war,  dazu kamen dann noch Fracht- und Gepäckstücke. Jeder Platz auf dem Schiff war besetzt, viele mußten sich mit den offenen Decks, so auch wir, begnügen. Die Reeling und die Aufbauten waren zum größten Teil vereist, es war ja noch Anfang März und richtiges Winterwetter mit Dauerfrost und Schneetreiben. Auf unseren Rucksäcken kauernd, vorläufig noch unter den dicken Sachen  vom Kampf um einen Platz hier oben schwitzend, überkam uns die bange Ahnung, was uns die nächsten Tage und Nächte auf dem eisigen Deck unter freiem Himmel auf diesem Schiff erwartete.

Am späten Vormittag legte der Frachter dann schließlich ab, und Stolpmünde verblaßte nach kurzer Zeit in der diesigen Winterluft. Keiner schämte sich seiner Tränen, die meisten von uns ahnten wohl, daß es der Abschied von der Heimat für immer war. Ich dachte vor allem auch an meine lieben Eltern, von denen ich Flucht über die Ostseenicht wußte, ob sie noch auf dem Landweg aus Stolp flüchten konnten, ja ob sie überhaupt noch am Leben waren. Nicht lange konnten wir uns diesen Gedanken hingeben, jetzt galt es erst einmal, hier auf dem Schiff zu überleben. In diesem Sinne machte ich mich auf den Weg, eine Toilette zu finden. Unter großer  Anstrengung bahnte ich mir einen Weg  ins Innere des Schiffes, auch die Gänge unter Deck waren dicht mit Flüchtlingen besetzt. Eine Toilette konnte ich nicht entdecken. Dafür stand ich plötzlich vor der halbgeöffneten Kapitänskajüte, aus der im Radio der Wehrmachtsbericht ertönte.  Verstanden habe ich nur den Satzfetzen „…. wurde heute die Stadt Stolp von den Russen eingenommen …“. Diese niederschmetternde Nachricht ließ mich den eigentlichen Zweck meines Vorhabens vergessen. Ich weiß nicht, wie ich zu meinen Freundinnen auf das Deck zurückgekommen bin, ich war wie betäubt und konnte lange kein Wort sagen.

Doch die eigene Not hier auf dem Schiff überlagerte bald die Gedanken an die schlimme Nachricht. Der kleine Frachter schaukelte nur so in den Ostseewellen, und bald waren fast alle seekrank. Die Reeling war ständig besetzt, denn eine Toilette gab es nicht. Auch seine Notdurft konnte man nicht anders verrichten, als den Hintern durch die Reeling zu stecken, und das bei starkem Wellengang, bei eisigem Wind und Schneetreiben. Schon nach kurzer Zeit gab es kaum noch einen sauberen Fleck auf dem Schiff. An Deck konnte man wenigstens frische Luft atmen, viel schlimmer war es im Inneren des Schiffes.

Am zweiten Tag hatte unser  Frachter den nördlichen Teil der Insel Rügen bei Kap Arkona erreicht. Nicht weit von uns  lag ein Dampfer vor Anker. Wir wurden informiert, daß er bereit war, Leute aufzunehmen. Wir vier Mädels meldeten uns, um den chaotischen Zuständen auf unserem Frachter zu entgehen. Als wir dann jedoch  erfuhren, daß zum Übersetzen nur ein ganz kleines Boot vorhanden  war und wir ohne jegliches Gepäck übergesetzt werden sollten, sahen wir lieber  davon ab.  Das war unser  Glück, denn am nächsten Tag teilte uns die Mannschaft unseres Schiffes mit, daß dieser Dampfer auf eine  Mine gelaufen und mit Mann und Maus gesunken war. Ein Schutzengel mußte uns vor diesem Schicksal bewahrt haben. Die Angst  blieb dennoch, daß uns ein gleiches Schicksal widerfahren könnte; waren doch erst wenige Wochen seit der großen Katastrophe des Untergangs der Wilhelm Gustloff vor Stolpmünde vergangen.

 Die Tage und Nächte an Bord vergingen  langsam. Wenigstens hatten wir genug zu essen, und ab und zu gab es heißen Tee; mehr konnte die Mannschaft nicht für uns tun. Zum Glück hatte sich das Wetter gebessert. Am 6. Tag liefen wir in den Hafen von Wismar ein. Ich kann nicht mit Worten beschreiben, wie erleichtert und glücklich wir waren, diese gefährliche Fahrt unbeschadet überstanden zu haben. Die Sonne schien, eine Musikkapelle begrüßte uns mit flotter Marschmusik. Wir wunderten uns darüber, denn all das schien nicht zu dem fast unbeschreiblichen gerade erlebten Elend  an Bord des Frachters zu passen. Wir wankten  von Bord und hatten zunächst nur den Wunsch, uns gründlich zu waschen, saubere und trockene Sachen anzuziehen und einen Platz zum Ausstrecken zu finden. Das Schicksal war uns hold; nach einigem Suchen und Fragen landeten wir vier Mädel auf einem dänischen Luxusdampfer, der hier ohne Mannschaft zur Überholung im Hafen lag und zur Zeit als Unterkunft für höhere Wehrmachtsangehörige diente. Mit etwas Glück erhielten wir  vier die Erlaubnis, hier Quartier zu beziehen. Voller  Wonne veranstalteten wir ein  wahres Badefest und schliefen anschließend viele, viele  Stunden. Am nächsten Tag sahen wir uns die Stadt mit ihren schönen alten Häusern und Kirchen an und berieten, was weiterhin zu tun sei. Bleiben konnten wir nicht, ohne erneut für den Krieg eingesetzt zu werden, und davon hatten wir genug. Da eine von uns in Blönsdorf bei Jüterbog zu Hause war und auch ich dort meine Schwägerin hatte, überredeten wir die anderen zwei, fürs erste mit uns zu fahren und setzten  uns in den Zug nach Berlin.

Der Zug war überfüllt mit Flüchtlingen und Soldaten, von denen die meisten ihre Einheit verloren hatten. Oft hielt der Zug stundenlang irgendwo auf freier Strecke. Kinder schrien, Kranke stöhnten, panikverbreitende Gerüchte sorgten für Angst und Schrecken. Nach schier endlos erscheinenden zwei Tagen und einer Nacht kamen wir endlich frühmorgens um 4 Uhr in Blönsdorf an.

Ganz erschöpft suchten Inge und ich mit je einer Kollegin unsere Verwandten auf. Ich weiß nicht mehr, was die anderen unternahmen, wann sie Blönsdorf verlassen haben und wohin sie gegangen sind. Ich selbst blieb etliche Wochen dort und fand auch gleich eine Anstellung. Es dauerte aber nicht lange, da meldete sich das Arbeitsamt, das mich zur Fuko als Wehrmachtshelferin nach Thüringen schicken wollte. Als ich das las, machte ich mich sofort auf den Weg nach Waltersdorf in der Oberlausitz zu meinen Schwiegereltern, wo ich das Kriegsende  und den Einmarsch der Russen am 8. Mai 1945 erlebte. Noch einmal begann eine schlimme Zeit für uns alle, besonders für die Frauen, die Freiwild für die Russen waren.  Ich lag etliche Tage mit meinen Schwiegereltern ganz oben auf dem Sonneberg im Wald versteckt, und der Schwiegerpapa peilte von Zeit zu Zeit die Lage, wann wir wieder zurück ins Haus konnten. Als wir es dann schließlich wagten, fanden wir das Haus in einem schlimmen Zustand vor, die russischen Eroberer hatten geplündert, und das Haus war voller Dreck und Unrat. Noch lange dauerte die Unsicherheit und die Angst vor den Russen; aber wir waren am Leben geblieben. Wie glücklich war ich dann, als auch Nachricht von meinem Mann aus französicher Gefangenschaft kam und viel später dann eine Mitteilung von meinen Eltern, die nach der Vertreibung 1946 in der Nähe von Gummersbach angesiedelt worden waren.

 Nie im Leben  werde ich all das Schlimme meiner Flucht über die Ostsee und die erste Zeit der Russenherrschaft  vergessen.

 

 

 

 

 

 

 

Spukgeschichten aus Pommern

 

Vom Alf-Ziehen und anderen Gruselgeschichten im Hinterpommern meiner Jugend. 

Wie gerne hatte ich es doch, wenn meine Eltern gruselige Geschichten erzählten, die sich alle in ihren Heimatdörfern Horst bzw. Dünnow im Landkreis Stolp zugetragen haben sollen. Als ich dann größer war, zog ich manches davon in Zweifel, versuchte sogar eine natürliche Erklärung dafür zu finden, was meine Eltern für Spuk und Übernatürliches hielten. Aber selbst heute kann ich einiges nicht einordnen, ob es sich bei diesen geschilderten Ereignissen um Tatsachen gehandelt haben könnte oder die Einbildungskraft Dinge nur vorgespiegelt hatte, denen eigentlich eine natürliche Ursache zu Grunde lag. Einerlei, auch dieses Thema gehört zur Heimatpflege, erzählt von unseren pommerschen Vorfahren, wie sie lebten, wie sie dachten, was sie in ihrer Zeit bewegte.

Der leuchtende  Alf um Mitternacht

Gern hörte ich immer wieder die Geschichte vom Alf-Ziehen. Das trug sich folgendermaßen zu. An einem lauen Sommerabend, schon nahe der mitternächtlichen Stunde, saß die Horster Dorfjugend wieder einmal am Teichufer und vertrieb sich die Zeit mit allerlei Kurzweil. Wie mein Vater erzählte, wurde es ganz plötzlich am Himmel hell von einer Feuerkugel, die einen Schweif von weiteren Kugeln hinter sich her zog. Alle schauten gebannt auf dieses unerwartete Schauspiel am Himmel. Und wer nun darauf hinzeigte und sich dazu äußerte, für den war die Himmelserscheinung eben so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war, während die anderen das Schauspiel weiter verfolgen konnten. Wie ich das einschätzte konnte das nur ein Komet gewesen sein; wie aber ließ sich erklären, dass er für den vorlauten Beobachter verschwand und die übrigen ihn weiterhin  sehen konnten? Wo liegt hier die Wahrheit, was ist Phantasie? Obwohl ich den Teil der Geschichte vom willkürlichen Verschwinden der Himmelserscheinung für einen Teil der Zuschauer meinem Vater gegenüber stark anzweifelte, vermochte ich ihn nicht von seiner Überzeugung  abbringen, dass es sich so und nicht anders zugetragen hatte. –

 

Der „Schwarze“ Alf in früher Morgenstunde

 Es gab noch einen weiteren „Alf“ in den Erzählungen meines Vaters. Diesmal war es aber der „Schwarze Alf“, den mein Großvater als überdimensionale Erscheinung im Morgengrauen auf seinem Weg nach Stolpmünde in den Weidenbäumen  am Wege gesehen hatte. Er soll ihm wohl von Weide zu Weide hüpfend gefolgt sein, so dass dem Großvater das kalte Grauen angekommen war, wie er später berichtete. – War es vielleicht doch nur Nebel? –

Der Alf, der kein Alf war

Mit dem Alf wurde aber auch Schabernack getrieben. So hatten sich ein paar Dorfburschen eines Abends vorgenommen, ihrem großmäuligen Nachbarn einen Schabernack zu spielen. Mit einem Bettlaken versehen legten sie sich auf die Lauer, bis der besagte Nachbar aus dem Dorfkrug heraus wankte und nach Hause torkelte. An einer dunklen Ecke sprang ihm plötzlich eine weiße Gestalt auf den Rücken und raunte ihm auf Plattdeutsch zu:“Nu häw ik di, du oll Muhlheld“. Worauf der „Maulheld“ in Panik mit dem vermeintlichen Alf auf dem Rücken nach Hause trabte so schnell er nur konnte. Kurz vor dem Hoftor sprang der „Alf“ ab und verschwand in der Dunkelheit, während der zu Tode erschrockene Gepeinigte sich noch lange nicht von diesem Schreck erholen konnte. Vor allem wollte ihm niemand glauben, was er da für ein Erlebnis gehabt haben wollte; alle meinten nur spöttisch: „Minsch, du waast doch bloot besoppe“. –

Spuk um Mitternacht

 Von  einem weiteren  gespenstigen Erlebnis wusste meine Mutter zu berichten. Die ganze Familie war in einem der Nachbardörfer von Dünnow zur Hochzeit gewesen und befand sich gegen Mitternacht auf der Rückfahrt. Dabei mussten sie durch den Wald, in dem es an einem Kreuzweg spuken sollte. Es war wohl gerade 12 Uhr, also der Beginn der Geisterstunde, als die Pferde zu scheuen begannen und der Bruder meiner Mutter, der den Wagen lenkte, auf einmal ein drittes Pferd vor dem Wagen sah, feurig leuchtend und mit Schaum vor dem Maul. Das Tempo des Wagens hatte sich plötzlich so gesteigert, dass alle dachten, der Wagen würde im nächsten Moment auseinanderbrechen. Der unglückliche Lenker des Wagens konnte kaum die Zügel in der Hand behalten, so stark war die Kraft der Pferde. „Er hatte kaum noch Fell in den Händen von den scheuernden Leinen“ höre ich noch heute meine Mutter sagen. Bis zum Waldrand raste das Gefährt so dahin, als das dritte Pferd wieder verschwunden war und das Gespann nun in gemäßigtem Tempo trabte, allerdings mit schweißnassen Flanken und Schaum vor dem Maul. Alle waren froh, dem „Leibhaftigen“ noch einmal entkommen zu sein. Mein stetiger Einwand am Ende des Erzählens wies darauf hin, dass im Wald irgend ein Tier die Pferde erschreckt haben könnte und das dritte Pferd vor dem Wagen ganz sicher das Produkt des vom Kümmel und Korn vernebelten Gehirns des Kutschers – denn nur der hatte mit Sicherheit dieses „Teufelspferd“ gesehen – gewesen war. Aber meine Mutter beharrte stets auf dem Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte. So war das eben mit dem Geisterglauben! –

Die Macht des Aberglaubens im Alltag

 Ja, man war auf den hinterpommerschen Dörfern noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Wirken übernatürlicher Kräfte überzeugt, obwohl am Beispiel der Familie meiner Mutter es am festen christlichen Glauben nicht fehlte. So wurde nicht nur täglich das Tischgebet gesprochen, man rief Gott auch in der Stunde der Not an. Wie meine Mutter erzählte, musste sich die Familie bei schweren Gewittern um den großen Esstisch versammeln, wo der Vater dann aus der Bibel vorlas, so lange das Unwetter tobte.  Glaube und Aberglaube schienen sich jedoch in den einfachen Gemütern der Menschen gelegentlich zu vermischen. So begab sich während des 1. Weltkrieges folgendes.  Eines Nachts wurde der Großvater durch lautes Klopfen an der Haustür geweckt. Aber es fand sich niemand, der Einlaß begehrte. Der Großvater sagte am nächsten Morgen:“Dat was urs Otto, hei hätt woll sin Lääwe för urs lotte mötte.“ Gemeint war der Sohn Otto, der sich als Soldat an der französischen Front befand. Und tatsächlich kam kurze Zeit darauf die Mitteilung, dass Otto genau an dem Tag gefallen war, an dem der Großvater das Klopfen in der Nacht gehört hatte. –

Was sich als Aberglaube äußerte, hatte seine Ursache wohl auch darin, dass man neben dem Guten im Menschen auch das Böse sichtbar und namhaft haben wollte. Dazu als Beispiel eine Begebenheit, die sich auf dem väterlichen Hof meiner Mutter zugetragen haben soll.  Wie gewöhnlich einmal in der Woche saß die Großmutter vor dem Haus und machte Butter, d.h. wie damals üblich in einem hölzernen Faß. Noch war die Butter nicht fertig, als über den Hof eine Frau aus dem Dorf kam, um etwas auszuborgen. Aus irgendeinem Grunde wurde ihr das aber verweigert, worauf sie den Hof mit dem „bösen Blick“ verließ. Erst jetzt erschrak die Großmutter, denn diese Frau war als Hexe im Dorf bekannt. Und ihre Vermutung bestätigte sich, als sie in das Butterfaß schaute. Verschwunden war die Butter, und an deren Stelle befand sich nun ein Haufen Kuhmist im Butterfaß. Schnell eilte die Großmutter zu einem Mann im Dorf, dem man übernatürliche Kräfte zuschrieb und erzählte von der verhexten Butter. Offensichtlich wurde der Mann öfter zur „Entzauberung“ von Hexenkunststücken gerufen, denn er kam sofort mit, besprach in geheimnisvoller Weise das Butterfaß, über das er vorher noch ein besonderes Tuch gebreitet hatte, und danach war das Faß wieder mit schönster Butter gefüllt. Ich pflegte dann am Ende der Erzählung meine Mutter ein bisschen spöttisch zu fragen, ob denn diese Butter nicht nach Kuhmist geschmeckt hätte, worauf meine Mutter stets vorwurfsvoll zu antworten pflegte:“Ja, du glaubst das wieder nicht. Aber ich bin doch dabei gewesen. Alles ist wahr daran“. –

Etwas Ähnliches passierte auch auf dem elterlichen Hof meines Vaters. Seine Mutter hielt gerne Federvieh. Eines Tages, als sie beim Füttern von Entenkücken war, kam eine als Hexe verschrieene Frau über den Hof; und so wie sie an den Kücken vorbei ging, fielen sie um und lagen leblos da. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Vaters Mutter ein Gegenmittel wusste. Nämlich, schnell holte sie ihren guten schwarzen Rock aus der Stube und steckte ein Kücken nach dem anderen durch den Rock hindurch, worauf diese sich am anderen Ende wieder auf die Beine stellten und munter weiter fraßen. Ja, man musste eben nur wissen, wie es gemacht wird! – Den Gipfel dieses „Zauberkunststückchens“ erlebte dann eines Tages meine Schwester. Sie war nämlich krank geworden, und man wusste nicht, was man zu ihrer Genesung tun konnte, bis meine Großmutter dann meinte: „Off wie sei moal dürch´n Rock stecke?“ Und so geschah es denn. Sie wurde wie die Entenkücken durch den Rock geschoben. Ob sie danach wieder gesund war, weiß ich nicht; aber diese Geschichte wurde später noch oft im Kreise der Familie erzählt und natürlich reichlich belacht. –

Besprechen kurierte Vieh und Mensch

 Dass man früher krankes Vieh besprach, statt den Viehdoktor zu holen, war gang und gäbe. Diese Heilkunst beherrschten  aber nur wenige. Es handelte sich wohl auch um etwas Seriöses, denn ich weiß selber, dass auch in unserer modernen Zeit das Besprechen noch praktiziert wird; ich kenne auch einige Fälle, wo die Gesichtsrose auf diese Art und Weise geheilt worden ist. Ein typisches Beispiel für Aberglauben aber geschah ebenfalls auf dem elterlichen Hof meines Vaters. Seine Schwester, in deren Besitz der Hof übergegangen war, hatte ständig Pech mit dem Vieh, es gedieh einfach nicht, und man schob es darauf, dass das Unheil in irgendeiner Gestalt durch die Tür in den Stall gelangte. Also musste die Tür präpariert werden, damit kein Unheil mehr zu den Tieren gelangen konnte. Man besorgte Quecksilber, wickelte dieses in einen knallroten Lappen, der dann unter der Türschwelle  vergraben wurde. Ich erspare mir hierzu einen Kommentar, weil bereits mein Vater, der diese Geschichte  erzählte, den Kopf über so viel Einfalt schüttelte. –

Beliebt waren auch das 6. und 7. Buch Moses. In ihnen gab es wohl Vieles, das die Phantasie zum Hang nach Übersinnlichem anreizte. So konnte man sich angeblich unsichtbar machen, wenn man es schaffte, in der Geisterstunde auf dem Friedhof eine schwarze Katze zu fangen, dieselbe zu töten, abzuhäuten, zu kochen und das Fleisch abzunagen, bis man einen ganz bestimmten Knochen fand. Das hatte aber noch niemand geschafft; mich aber  hatte es sehr beeindruckt, wann  immer davon erzählt wurde.

Wie gerne lauschte ich doch solchen Gesprächen und Erzählungen, wenn ich dort auf dem Dorfe meine Ferien verbrachte. Besonders mein um etliche Jahre älterer Cousin hatte es darauf abgesehen, mir das Gruseln beizubringen, meistens wenn wir schon im Bett lagen und draußen der Wind heulte und drinnen  die Holzwürmer laut im Dachgebälk nagten. Als Drohung für Dinge, die ich nicht tun sollte, galt immer die Bemerkung: „Dich holt sonst der Mort“.  Oder wenn ich Grimassen hinter jemand her schnitt, wurde ich gewarnt, dass mein Gesicht so stehen bleiben würde, wenn dann gerade die Uhr schlägt. Das war so schauerlich interessant, dass ich es eines Tages sogar ausprobierte und beinahe enttäuscht war, als nichts mit meinem Gesicht passiert war. – Abgesehen von diesem Spukkram  waren die Ferienerlebnisse auf dem Dorf für uns Stadtkinder so abenteuerlich schön, dass ihre Zauberkraft auch heute noch beim Erinnern wirksam ist. Es ist kaum zu glauben, dass seit jener Zeit nun schon viele Jahrzehnte vergangen sind, in denen sich wesentliche Dinge in unserem  Leben verändert haben. Nicht verändert aber hat sich die Erinnerung an diese schöne Zeit in Hinterpommern, sie wird bis ans Ende unserer Tage bleiben – und hoffentlich auch in den nächsten Generationen noch weiter leben .

 

 

Der 18. September 1944 – Mein zweiter Geburtstag

Diesen Tag begehe ich jedes Jahr für mich allein  in stillem Gedenken.  Die Veröffentlichung in diesem Jahr geschieht angesichts der vielen Kriegsherde um uns herum als Mahnung,  uns nicht vor den Kriegskarren fremder Mächte für deren Interessen einspannen zu lassen.

 

Was ich hier niedergeschrieben habe, ist die Schilderung eines ganz gewöhnlichen Tages an der Front im 2. Weltkrieg . Dieser Tag hat sich so abgespielt; die Ereignisse sind kein  Kinofilm, den man sich mal so aus Interesse anschaut; es handelt sich auch nicht um ein Computerspiel, bei dem man durch Druck auf Tasten seine Geschicklichkeit im Töten imaginärer Figuren ausprobiert;  die Handlungen spielen sich auch nicht auf einem Übungsgelände ab, auf dem zwar aus richtigen Waffen aber mit Farbpatronen auf reale Menschen geschossen wird. – In meiner geschilderten Wirklichkeit  reißt jede Kugel, die trifft, tiefe Löcher, aus denen das Blut schießt, zerfetzt Organe,  trennt Gliedmaßen vom Körper, führt zum qualvollen Tod – in vielen Fällen zu schweren Wunden mit Heilungschancen zum  lebenslänglichen Krüppel.

 
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Vorbemerkungen zu meinem Blog

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Soviel sich in den 90 Jahren meines Lebens auch  an Erinnerungen angesammelt hat, am stärksten haftet in mir das Gedenken an die Heimat Pommern, an meine Heimatstadt Stolp, an das Stück Erde, auf dem ich geboren bin und meine Jugend verbracht habe. Heimat – das sind die Eltern und Geschwister, die Verwandten, die dort wohnenden Menschen schlechthin, das ist der vertraute Klang ihrer Sprache, das ist die Landschaft mit ihren spezifischen Eigenarten, das sind die besonderen Sitten und Gebräuche dort, ihre Geschichte  usw. usf.
Dass sich meine Gedanken so intensiv mit diesem Thema beschäftigen, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass ich zu den  rund 14 Millionen Menschen gehöre, die am Ende des 2. Weltkrieges ihre Heimat durch Vertreibung verloren haben. Eine Volksweisheit besagt, dass derjenige, der seine Geliebte verloren hat, 7 Jahre um sie trauert; wer aber seine Heimat verloren hat, der trauert für den Rest seines Lebens. Das entspricht auch meiner Erfahrung, wenngleich ich das Wort „trauern“ für mich nicht zutreffend finde, denn ich hatte mit meiner Wahlheimat Dresden nach dem Krieg Glück. Statt Trauer beherrscht mich vielmehr eine lebendige Sehnsucht nach Pommern, dem Land meiner Vorfahren und meiner eignen Jugend, dessen Andenken ich auch an meine Nachkommen weitergeben möchte. Dazu sollen  auch die Veröffentlichungen in meinem Blog ihren Beitrag leisten. Die Leserin, der Leser mögen verstehen, dass sich dabei  meine in 90 Jahren erworbene komplexe Lebenserfahrung und die eigens erlebte Geschichte mehrerer politischer Epochen widerspiegeln werden. Es ist nicht beabsichtigt, den Begriff Heimat als abstrakte Kategorie definieren zu wollen. Heimat ist für mich etwas individuell Persönliches und Gegenständliches. Mein erster Beitrag schon wird das verdeutlichen. Schließlich greife ich mit der Thematik  Heimat angesichts der Vielzahl von  Flüchtlingen und Asylanten in der heutigen Welt  auch ein ganz aktuelles Thema auf, bei dem es für die Betroffenen stets auch um die Heimat geht.

 

 

 

Eine unerwartete Frage

Wieder einmal im heimatlichen Pommern, zum zehnten Mal übrigens seit Kriegsende.  Und natürlich wieder inP1050550 Rowe. Zwei Wochen Erholung in der gesunden Ostseeluft unter dem hohen Himmel Pommerns. Wanderungen in den Strandwäldern und am Garder See, den Rewekol als fernen Begleiter. Sonnige Junitage am Strand mit Abkühlung im noch kalten Wasser.

Die erste Woche vergeht in Einsamkeit. Ich nutze sie zum Malen, will die Ansichten der Heimat so fixieren, wie  sie  meine Augen sehen,  wie ich sie mit all meinen Sinnen empfinde. Bald schon schmücken die Wände meines ZimmerSteilküste Rowe 12s Aquarelle mit Motiven der Umgebung von Rowe. Meine Freunde werden sie als kleine Kunstwerke bewundern, während ich am fertigen Bild stets noch viel auszusetzen habe. Ja  freilich, mit Pechsteins Bildern lassen sie sich nicht vergleichen. Kunst hin, Kunst her – in diesen Bildern spiegelt sich schließlich meine Liebe zur Heimat wider.

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Abschied von der Heimat 1944

August 1944. Heimaturlaub vor dem Fronteinsatz. Wie im Traum plätschern die ersten Tage zu Hause dahin: von Muttern verwöhnt, vom Vater stolz beachtet, von den NachbarnLandser 1 wegen der gut sitzenden Uniform bewundert, selber ein bisschen stolz auf die erst kürzlich verliehenen Unteroffizierslitzen; fehlte nur noch die passende Gesellschaft. Doch damit ist nichts los, die Schulkameraden und die gleichaltrigen Nachbarskinder stecken irgendwo als Soldat in Europa oder sind schon gefallen, die bekannten Mädels beim Arbeitsdienst oder Kriegshilfsdienst.

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Welch ein Wiedersehen !

Wir fahren in die Heimat, nach Stolp.

Wir schreiben das Jahr 1965. Schon seit längerer Zeit dürfen deutsche Touristen nach Polen fahren. Was liegt also näher, den Familienurlaub im August im Ostseebad Zempin zu erweitern und für eine Woche in die Heimatstadt Stolp zu fahren. Über Pomellen / Kolbasco geht Heimatstadt Stolpes in Richtung Danzig, durch die Städte Naugard, Belgard, Köslin, Schlawe, nach Stolp. Nahezu unverändert sehe ich die Schlawer Straße wieder mit dem Restaurant Bergschlösschen zur Linken und der Bahnunterführung geradeaus,  von der ab es dann die Hospitalstraße bis zum Stephanplatz geht. Wie zum Gruß tauchen das Rathaus, Kaufhaus Zeeck und das Neue Tor in alter Pracht auf. Nach einer kurzen Verschnaufpause vor dem Rathaus gelangen wir über den Kaufmannswall zum KaufmannswallBahntor, wo wir im Hotel Franziskaner unser Glück um Quartier versuchen. Es klappt sogar damit, wir erhalten ein Zimmer, in dem wir zwei Erwachsenen – meine Frau und ich – und unsere beiden Töchter für die nächsten Tage unterkommen. Weiterlesen