Abschied von der Heimat 1944

August 1944. Heimaturlaub vor dem Fronteinsatz. Wie im Traum plätschern die ersten Tage zu Hause dahin: von Muttern verwöhnt, vom Vater stolz beachtet, von den NachbarnLandser 1 wegen der gut sitzenden Uniform bewundert, selber ein bisschen stolz auf die erst kürzlich verliehenen Unteroffizierslitzen; fehlte nur noch die passende Gesellschaft. Doch damit ist nichts los, die Schulkameraden und die gleichaltrigen Nachbarskinder stecken irgendwo als Soldat in Europa oder sind schon gefallen, die bekannten Mädels beim Arbeitsdienst oder Kriegshilfsdienst.

So fuhr ich mehr aus Langerweile  fast täglich zum Baden nach Stolpmünde. Hier hatten wir uns als Jungs sonntags und in den Ferien herumgetrieben, seitdem wir per Fahrrad den Weg hierher bewältigen konnten. Das war noch gar nicht so lange her. Wie früher lag ich nun wieder im heißen Sand unter blauem Ostseebad StolpmündeHimmel und Sonne, mehr nachdenklich als entspannt mit Erinnerungen an unbeschwerte Ferientage hier am Ostseestrand mit Kameraden wie ich, erfüllt von Abenteuerromantik, noch nichts ahnend vom mörderischen Krieg, der uns nun zum Schicksal geworden war.

Immer häufiger die bohrende Frage in den Gedanken, was uns die Zukunft bringen wird. Der Krieg war so gut wie verloren, niemand sagte es laut, aber fast jeder dachte so, denn der Ring der feindlichen Armeen schloß sich immer enger um unser Land, die anglo-amerikanischen Bomber flogen Nacht für Nacht ungehindert wegen der fehlenden Abwehr  ins deutsche Gebiet ein und legten eine Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Die Versorgungsschwierigkeiten im Land nahmen zu,  Ersatz stand seit langem für Echtheit. Vergeblich warteten die gläubigen Massen der Bevölkerung auf die von den Nazis angekündigte Vergeltungswaffe. War da überhaupt etwas dran? Oder vielleicht doch? Es sollte ja Raketen geben, die bis zum Mond fliegen konnten, wie meine auf dem Flakschießplatz Stolpmünde tätige Schwester von einem ihr bekannten Offizier im Vertrauen  erfahren hatte. Warum wurden diese –  womöglich mit einer alles zerstörenden Wunderwaffe bestückt –  denn nicht schon längst gegen die USA eingesetzt? Ja, ein Wunder musste schon geschehen, wenn sich das Kriegsglück noch einmal zugunsten Deutschlands wenden sollte. Lindley Fraser vom BBC London , dessen Kommentar ich jeden Abend zum Entsetzen der Mutter abhörte, wusste jedenfalls, dass es keine Wunder für Hitler mehr geben würde und prophezeite die baldige  Vernichtung Hitlerdeutschlands. Schlimmer noch klangen die Warnungen der Russen, die sie allabendlich auf Langwelle in die deutschen Radioprogramme  hineinfunkten und das deutsche Volk zum Sturze Hitlers aufforderten, andernfalls Schlimmes zu erwarten sei. Das klang viel beängstigender als Lindley Frasers Prognose. Wie aber sollte der sogenannte größte Deutsche gestürzt werden?  War doch das erst unlängst  durch einige mutige Offiziere der Wehrmacht verübte Attentat auf Hitler gescheitert. Wäre übrigens gut, wenn der Krieg plötzlich aus wäre und ich nicht mehr an die Front müsste. Gedanken wie diese kreisten unablässig in meinem Schädel und versetzten mich schließlich in eine düstere Stimmung. Ahnte ich damals etwa schon, dass dieser Urlaub hier und jetzt  für mich letztmalig ein Aufenthalt in der Heimat sein würde? Wenn ja, dann hätte ich als Grund dafür damals eher meinen Soldatentod an der Front angesehen, nicht aber die Vertreibung aus unserem Land, das Jahrhunderte  von deutschem Recht und deutscher Kultur geprägt war. – Stunden und Tage nahm ich so grübelnd Abschied von meinem Heimatland.Strandflüchter auf Düne

 – Später in der Gefangenschaft habe ich oft an diese letzten Stunden unter der Sonne am heimatlichen Ostseestrand gedacht und die Bilder und Stimmungen von damals in meinem tiefsten Inneren vorüberziehen lassen, so wie sie nicht schöner als im vertrauten Pommernlied ausgedrückt werden:

                                                      Jetzt bin ich im Wandern,

                                                      bin bald hier bald dort,

                                                      doch aus allen andern,

                                                      treibt´s mich immer fort,

                                                      bis ich  in dir finde wieder meine Ruh´,

                                                      send ich meine Lieder, dir, o Heimat, zu.

                                                                                          Adolf Pompe, 1852