Meine Flucht über die Ostsee

Vorwort zum Artikel von Anita Oppitz geb. Schmude

Angeregt von den Berichten über das Flüchtlingselend im Mittelmeerraum entschließe ich mich zur Veröffentlichung eines Erlebnisberichtes meiner Schwester aus dem Jahres 1945. Damit will ich darauf aufmerksam machen, dass die Ursachen für das Elend der betroffenen Menschen  damals wie heute  in der  menschenverachtenden Politik der Vertreter des Wirtschafts- und Finanzkapitals und ihrer Handlanger zur Erzielung von Maximalprofiten liegt. Erstaunlich ist dabei, wie die Massen immer wieder auf die gleichen Propagandatricks dieser Clique hereinfallen wie Nationalismus, Rassismus, Erfindung von Feindbildern, religiöse Vorurteile, Lügen, Geschichtsfälschungen, um nur einige des reichhaltigen Instrumentariums der politischen Überzeugungsarbeit auch führender  Parteien zu nennen. Die gegenwärtige politische Lage in der Welt hat sich zugespitzt; öffentlich wird von der Notwenigkeit der weiteren militärischen Aufrüstung gesprochen; ein schwerbewaffnetes US-Amerikanisches Expeditionskorps übt den modernen Krieg unmittelbar vor dem Territorium Rußlands.  Als Zeitzeuge und Betroffener  der Folgen des 2. Weltkrieges graust mir vor dem Szenarium eines noch schlimmeren Krieges mit atomarer Waffentechnik, der in erster Linie ein nicht mehr bewohnbares Europa hinterlassen würde.  Das muß verhindert werden!      Diese Meinung wird von großen Teilen  der Bevölkerung vertreten. Wir erwarten von den Politikern, dass sie sich bedingungslos für eine Politik des Friedens entscheiden.

Meine Flucht über die Ostsee

Anita Oppitz, geb. Schmude

1943 wurde ich als Zivilangestellte auf dem Flak-Schießplatz in Stolpmünde dienstverpflichtet. Unter anderem schrieb ich täglich den Wehrmachtsbericht mit der Schreibmaschine ab, und danach wurde auf der großen Generalstabskarte die sich täglich verändernde Front im Westen und im Osten abgesteckt. So erlebte ich besonders deutlich, wie die Feinde von beiden Seiten immer näher rückten und ahnte, daß  wir einem schrecklichen Schicksal entgegen gingen. Anfang März 1945 war es dann soweit, daß alle auf dem Schießplatz dienstverpflichteten Frauen mit Schiff über die Ostsee in Sicherheit gebracht werden sollten . Auch das militärische Personal des Schießplatzes war in diese Absetztaktion einbezogen. Am 6. März frühmorgens fuhren uns Busse zum Hafen von Ostseebad Stolpmünde. Meine Freundin Inge und ich  sowie zwei weitere Mädel nahmen uns vor, unbedingt zusammenzubleiben und einander nicht im Stich zu lassen.

 Wegen starken Seegangs konnte unser Frachter am gleichen Tag jedoch nicht auslaufen, und wir mußten uns deshalb noch eine weitere Nacht im Parkhotel aufhalten. Um dem überfüllten Massenquartier und dem Kampieren auf harten Stühlen bzw. auf dem Fußboden wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen, begaben wir vier Mädels uns in die Lotsenstation am Hafen, wo bekannte Soldaten Dienst machten. Dort wurden wir nicht nur  mit großem Hallo empfangen, sondern für die vor uns liegende

Schiffsreise mit ganzen Dauerwürsten und Schinken versorgt, die von den vielen Trecks aus Ostpreußen und Hinterpommern zusammen mit den Fluchtwagen  zurückgelassen worden waren, weil  es auf den verstopften Straßen nur noch zu Fuß und mit Handgepäck weiter ging. Wie froh waren wir in den nächsten Tagen auf See über diese zusätzliche Marschverpflegung, denn an Bord mußte sich jeder selbst versorgen.

Am nächsten Tag, dem 7. März morgens, ging unsere Seereise dann endlich los. Vor der Gangway des Schiffes hatte sich eine gewaltige Menschenmenge eingefunden, die an Bord des Schiffes drängte. Mehr geschoben als gegangen, erreichte ich das Deck. Auch meine drei Kolleginnen hatten es geschafft. Nicht jeder hatte dieses Glück und mußte unter Tränen zurückbleiben.  Unser Frachter hatte 1200 Menschen aufgenommen, wobei eine zulässige Anzahl von nur 500 Personen vorgesehen war,  dazu kamen dann noch Fracht- und Gepäckstücke. Jeder Platz auf dem Schiff war besetzt, viele mußten sich mit den offenen Decks, so auch wir, begnügen. Die Reeling und die Aufbauten waren zum größten Teil vereist, es war ja noch Anfang März und richtiges Winterwetter mit Dauerfrost und Schneetreiben. Auf unseren Rucksäcken kauernd, vorläufig noch unter den dicken Sachen  vom Kampf um einen Platz hier oben schwitzend, überkam uns die bange Ahnung, was uns die nächsten Tage und Nächte auf dem eisigen Deck unter freiem Himmel auf diesem Schiff erwartete.

Am späten Vormittag legte der Frachter dann schließlich ab, und Stolpmünde verblaßte nach kurzer Zeit in der diesigen Winterluft. Keiner schämte sich seiner Tränen, die meisten von uns ahnten wohl, daß es der Abschied von der Heimat für immer war. Ich dachte vor allem auch an meine lieben Eltern, von denen ich Flucht über die Ostseenicht wußte, ob sie noch auf dem Landweg aus Stolp flüchten konnten, ja ob sie überhaupt noch am Leben waren. Nicht lange konnten wir uns diesen Gedanken hingeben, jetzt galt es erst einmal, hier auf dem Schiff zu überleben. In diesem Sinne machte ich mich auf den Weg, eine Toilette zu finden. Unter großer  Anstrengung bahnte ich mir einen Weg  ins Innere des Schiffes, auch die Gänge unter Deck waren dicht mit Flüchtlingen besetzt. Eine Toilette konnte ich nicht entdecken. Dafür stand ich plötzlich vor der halbgeöffneten Kapitänskajüte, aus der im Radio der Wehrmachtsbericht ertönte.  Verstanden habe ich nur den Satzfetzen „…. wurde heute die Stadt Stolp von den Russen eingenommen …“. Diese niederschmetternde Nachricht ließ mich den eigentlichen Zweck meines Vorhabens vergessen. Ich weiß nicht, wie ich zu meinen Freundinnen auf das Deck zurückgekommen bin, ich war wie betäubt und konnte lange kein Wort sagen.

Doch die eigene Not hier auf dem Schiff überlagerte bald die Gedanken an die schlimme Nachricht. Der kleine Frachter schaukelte nur so in den Ostseewellen, und bald waren fast alle seekrank. Die Reeling war ständig besetzt, denn eine Toilette gab es nicht. Auch seine Notdurft konnte man nicht anders verrichten, als den Hintern durch die Reeling zu stecken, und das bei starkem Wellengang, bei eisigem Wind und Schneetreiben. Schon nach kurzer Zeit gab es kaum noch einen sauberen Fleck auf dem Schiff. An Deck konnte man wenigstens frische Luft atmen, viel schlimmer war es im Inneren des Schiffes.

Am zweiten Tag hatte unser  Frachter den nördlichen Teil der Insel Rügen bei Kap Arkona erreicht. Nicht weit von uns  lag ein Dampfer vor Anker. Wir wurden informiert, daß er bereit war, Leute aufzunehmen. Wir vier Mädels meldeten uns, um den chaotischen Zuständen auf unserem Frachter zu entgehen. Als wir dann jedoch  erfuhren, daß zum Übersetzen nur ein ganz kleines Boot vorhanden  war und wir ohne jegliches Gepäck übergesetzt werden sollten, sahen wir lieber  davon ab.  Das war unser  Glück, denn am nächsten Tag teilte uns die Mannschaft unseres Schiffes mit, daß dieser Dampfer auf eine  Mine gelaufen und mit Mann und Maus gesunken war. Ein Schutzengel mußte uns vor diesem Schicksal bewahrt haben. Die Angst  blieb dennoch, daß uns ein gleiches Schicksal widerfahren könnte; waren doch erst wenige Wochen seit der großen Katastrophe des Untergangs der Wilhelm Gustloff vor Stolpmünde vergangen.

 Die Tage und Nächte an Bord vergingen  langsam. Wenigstens hatten wir genug zu essen, und ab und zu gab es heißen Tee; mehr konnte die Mannschaft nicht für uns tun. Zum Glück hatte sich das Wetter gebessert. Am 6. Tag liefen wir in den Hafen von Wismar ein. Ich kann nicht mit Worten beschreiben, wie erleichtert und glücklich wir waren, diese gefährliche Fahrt unbeschadet überstanden zu haben. Die Sonne schien, eine Musikkapelle begrüßte uns mit flotter Marschmusik. Wir wunderten uns darüber, denn all das schien nicht zu dem fast unbeschreiblichen gerade erlebten Elend  an Bord des Frachters zu passen. Wir wankten  von Bord und hatten zunächst nur den Wunsch, uns gründlich zu waschen, saubere und trockene Sachen anzuziehen und einen Platz zum Ausstrecken zu finden. Das Schicksal war uns hold; nach einigem Suchen und Fragen landeten wir vier Mädel auf einem dänischen Luxusdampfer, der hier ohne Mannschaft zur Überholung im Hafen lag und zur Zeit als Unterkunft für höhere Wehrmachtsangehörige diente. Mit etwas Glück erhielten wir  vier die Erlaubnis, hier Quartier zu beziehen. Voller  Wonne veranstalteten wir ein  wahres Badefest und schliefen anschließend viele, viele  Stunden. Am nächsten Tag sahen wir uns die Stadt mit ihren schönen alten Häusern und Kirchen an und berieten, was weiterhin zu tun sei. Bleiben konnten wir nicht, ohne erneut für den Krieg eingesetzt zu werden, und davon hatten wir genug. Da eine von uns in Blönsdorf bei Jüterbog zu Hause war und auch ich dort meine Schwägerin hatte, überredeten wir die anderen zwei, fürs erste mit uns zu fahren und setzten  uns in den Zug nach Berlin.

Der Zug war überfüllt mit Flüchtlingen und Soldaten, von denen die meisten ihre Einheit verloren hatten. Oft hielt der Zug stundenlang irgendwo auf freier Strecke. Kinder schrien, Kranke stöhnten, panikverbreitende Gerüchte sorgten für Angst und Schrecken. Nach schier endlos erscheinenden zwei Tagen und einer Nacht kamen wir endlich frühmorgens um 4 Uhr in Blönsdorf an.

Ganz erschöpft suchten Inge und ich mit je einer Kollegin unsere Verwandten auf. Ich weiß nicht mehr, was die anderen unternahmen, wann sie Blönsdorf verlassen haben und wohin sie gegangen sind. Ich selbst blieb etliche Wochen dort und fand auch gleich eine Anstellung. Es dauerte aber nicht lange, da meldete sich das Arbeitsamt, das mich zur Fuko als Wehrmachtshelferin nach Thüringen schicken wollte. Als ich das las, machte ich mich sofort auf den Weg nach Waltersdorf in der Oberlausitz zu meinen Schwiegereltern, wo ich das Kriegsende  und den Einmarsch der Russen am 8. Mai 1945 erlebte. Noch einmal begann eine schlimme Zeit für uns alle, besonders für die Frauen, die Freiwild für die Russen waren.  Ich lag etliche Tage mit meinen Schwiegereltern ganz oben auf dem Sonneberg im Wald versteckt, und der Schwiegerpapa peilte von Zeit zu Zeit die Lage, wann wir wieder zurück ins Haus konnten. Als wir es dann schließlich wagten, fanden wir das Haus in einem schlimmen Zustand vor, die russischen Eroberer hatten geplündert, und das Haus war voller Dreck und Unrat. Noch lange dauerte die Unsicherheit und die Angst vor den Russen; aber wir waren am Leben geblieben. Wie glücklich war ich dann, als auch Nachricht von meinem Mann aus französicher Gefangenschaft kam und viel später dann eine Mitteilung von meinen Eltern, die nach der Vertreibung 1946 in der Nähe von Gummersbach angesiedelt worden waren.

 Nie im Leben  werde ich all das Schlimme meiner Flucht über die Ostsee und die erste Zeit der Russenherrschaft  vergessen.