Der 18. September 1944 – Mein zweiter Geburtstag

Diesen Tag begehe ich jedes Jahr für mich allein  in stillem Gedenken.  Die Veröffentlichung in diesem Jahr geschieht angesichts der vielen Kriegsherde um uns herum als Mahnung,  uns nicht vor den Kriegskarren fremder Mächte für deren Interessen einspannen zu lassen.

 

Was ich hier niedergeschrieben habe, ist die Schilderung eines ganz gewöhnlichen Tages an der Front im 2. Weltkrieg . Dieser Tag hat sich so abgespielt; die Ereignisse sind kein  Kinofilm, den man sich mal so aus Interesse anschaut; es handelt sich auch nicht um ein Computerspiel, bei dem man durch Druck auf Tasten seine Geschicklichkeit im Töten imaginärer Figuren ausprobiert;  die Handlungen spielen sich auch nicht auf einem Übungsgelände ab, auf dem zwar aus richtigen Waffen aber mit Farbpatronen auf reale Menschen geschossen wird. – In meiner geschilderten Wirklichkeit  reißt jede Kugel, die trifft, tiefe Löcher, aus denen das Blut schießt, zerfetzt Organe,  trennt Gliedmaßen vom Körper, führt zum qualvollen Tod – in vielen Fällen zu schweren Wunden mit Heilungschancen zum  lebenslänglichen Krüppel.

 

Invasionsfront  der US-Army,  18. September 1944

 

Um Mitternacht weckt mich der Melder mit dem Befehl: Fertigmachen zu Abmarsch! Schnell bringe  ich meine Männer auf Trab, innerhalb weniger Minuten ist die Gruppe abmarschbereit. Jedoch kommt jetzt  das für den Kommiß Typische: Warten! Es vergeht eine Stunde und eine weitere halbe. Meine Männer schlafen schon wieder.  Sollen sie!  Für eine Weile  unterhalte ich mich mit Erwin. Er spricht mir Mut zu. Sicherlich weiß er, wie es in mir aussieht, obwohl ich es nicht zeige. Endlich, gegen 6 Uhr, rücken wir ab. An der Straße werden Handgranaten ausgegeben, Ei- und Stielgranaten. Ich stopfe mir zwei in die Hosentaschen. Es erweist sich, einige meiner Männer können sie nicht scharf machen, das haben sie wohl bei der Kurzausbildung nicht gelernt. Schütze B. kommt zu mir und sagt in seinem Wasserpolnisch: Bitte machen Herr Unteroffizier mir das. Er fiel mir schon gestern durch seine Schlappheit beim Marsch auf. Alle andern kommen aber mit den Handgranaten zurecht. Es geht endlich weiter, das Bataillon rückt in den Bereitstellungsraum ein. Bei Vorgehen erblicke ich die ersten toten Amerikaner, ein Verwundeter sitzt wie ein Häuflein Elend auf dem schlammigen Boden. Der Anblick berührt mich sehr; werde  auch ich bald so hilflos daliegen, vielleicht als Toter?

 

Der Bereitstellungsraum erweist sich als großer Talkessel; am Rand uns gegenüber stehen ein paar Büsche. Der Boden ist steinig, wir sollen uns  eingraben, der Spaten dringt kaum in diesen Boden ein. Inzwischen schickt der Ami immer wieder Granaten zu uns herüber. Sie pfeifen aber meist über uns hinweg, ein unangenehmes Geräusch. Der Kompaniechef und die Zugführer werden zum Einsatzstab gerufen. Ich liege mit meiner Gruppe  dicht bei Erwins Haufen. Der Beschuß hat zugenommen, Splitter schlagen dicht bei uns ein, noch hat es keinen erwischt. Das sind sie also die Minuten vor dem Angriff, von denen jeder erzählt, der sie schon erlebt hat. Meine Männer sind immer noch mit dem Graben einer Deckung beschäftigt, ich gehe von einem zum andern, will Mut machen, hat wohl wenig Sinn, denn jeder ist mit seinen eignen Gedanken beschäftigt. Am gegenüber liegenden Hang des Talkessels sehe ich Ebi, wir winken uns noch einmal  zu . Leutnant R., unser Zugführer, kontrolliert unsere Stellung, äußerlich ist er ruhig, wie sieht es wohl in ihm aus? Plötzlich beginnen unsere 8-cm-Granatwerfer zu feuern, bereiten offensichtlich unseren Angriff vor. Ein Höllenlärm hat eingesetzt, beißender Pulverdampf erfüllt die Luft. Nach wenigen Schuß antwortet der Ami mit seinen 12-cm Werfern und deckt unsere Batterien förmlich zu. Sie schweigen ganz plötzlich, müssen wohl viel abbekommen haben.

 

Für uns kommt der Befehl zum Vorgehen. Ich halte mich genau an Erwins Gruppe, trotzdem habe ich nach 500 Metern keine Verbindung mehr, denn das Gelände ist unübersichtlich, und das ständige Deckungnehmen vor dem feindlichen Artilleriebeschuß lenkt ab. Mühsam arbeiten wir uns in eine Schlucht vor, als plötzliches starkes Infanteriefeuer aus Maschinengewehren von rechts einsetzt. Die Einschläge liegen noch zu kurz, wie die Leuchtspur zeigt, nur einige Kugeln pfeifen unangenehm nahe über unsere Köpfe hinweg. Ehe ich mich versehe, rennen die Männer meiner Gruppe weg nach hinten. Ich bin plötzlich allein, sehe gerade noch die Männer von Erwins Gruppe etwa 50 Meter rechts von mir. Instinktiv mache ich mich klein, liege erstmal still, bis das Schießen aufhört. Nun sehe ich, dass hier eine Stellung der Amis gewesen sein muß, denn überall liegen Ausrüstungsgegenstände, Brotbeutel, Feldflaschen, Spaten, leere Konservenbüchsen, ja sogar Zigarettenpackungen und Verpflegungsschokolade. Es gelingt mir, mich in einen flachen Granattrichter zu wälzen, von dem aus ich vorsichtig die Lage peilen kann. In 50 Meter Entfernung sehe ich amerikanische Stahlhelme, von dort kommt auch das Maschinengewehrfeuer, das direkt auf mich gerichtet scheint. Dreck von den einschlagenden Geschossen spritzt vor und neben mir auf, aber ich werde nicht getroffen.  Endlich verlegt der MG-Schütze das Feuer in Richtung Erwins Gruppe, die gerade dabei ist, sich einzeln nach hinten abzusetzen. Ich nutze die Gelegenheit, mit einem Sprung aus meiner sicheren Deckung ebenfalls aus der Gefahrenzone zu entkommen. So stoße ich auch bald in einer Halde auf den 2. und 3. Zug, wo sich auch meine Männer befinden.

 

Kaum dass ich Atem geschöpft hatte, erhält der 1. Zug den Befehl, den Dorfrand zu besetzen und ihn gegen die Amis um jeden Preis zu halten. Offensichtlich ist unsere Großoffensive stecken geblieben, und es geht jetzt nur darum, den geringen Bodengewinn zu verteidigen.  Meiner Gruppe wird der mit Sträuchern bewachsene Vorgarten eines villenähnlichen Wohngebäudes zugeteilt. Kein schlechter Platz zur Verteidigung, freies Schußfeld nach vorn, Tarnung für uns in dem Gewirr von Sträuchern und Bäumen. Ich plaziere das MG 42 hinter einer kleinen Bodenwelle, verteile die Männer auf einer Breite von 50 Metern und gebe den Befehl zum Eingraben. Ich suche mir eine Stelle , von der aus ich unsern Verteidigungsabschnitt überblicken kann. Rechts von uns haben wir Anschluß an den 2. Zug, wo sich auch der Kompanieführer befindet. Zu  Erwins Gruppe haben wir Anschluß am linken Flügel. Noch ist alles ziemlich ruhig bei uns, ab und zu schlägt weiter entfernt eine Granate ein, nicht direkt in der Nähe hört man Gewehrfeuer. Etwa hundert Meter vor uns ein größeres Gehölz, in dem wir  die Amis mehr ahnen als sehen können, offensichtlich ist dort die Bereitstellung für ihren bevorstehenden Angriff, der zweifellos unserm Abschnitt  gilt. Plötzlich Panzergeräusch von rechts und gleich darauf der halblaute Befehl zum Abfeuern einer Panzerfaust. Ich halte vor Spannung den Atem an. Wird sie ihr Ziel erreichen? Keine Detonation! Also Fehlschuß! Dafür wildes Feuern des MG aus dem Ami-Panzer und Schreie von  getroffenen Kameraden. Gleich darauf das Aufheulen des Panzermotors und Mahlen der Ketten bei seiner Kehrtwendung . Mit Erleichterung sehen wir  den Panzer in einer Staubwolke verschwinden. Nach wenigen Minuten  jedoch  nähern sich vorsichtig direkt auf uns zu 3 Sherman Panzer. Sie fahren hintereinander  und scheren  in einer Entfernung von etwa 40 Metern vor uns aus,  die 76mm Geschützrohre auf uns gerichtet. Der mittlere hat genau den Geländeabschnitt  im Visier, den ich mit meiner Gruppe besetzt halte. Aus unserm rechten Abschnitt hören wir den Abschuß eines „Panzerschrecks“, wir sehen die Granate fliegen und kurz vor dem äußeren der drei Panzer in den Boden einschlagen. Es war die einzige Panzerabwehrwaffe, die uns am Morgen zugeteilt worden war. Gegen Panzer sind wir jetzt  wehrlos. Mit unseren drei Maschinengewehren läßt sich gegen Panzerfahrzeuge nichts ausrichten, die Geschosse prallen von der Panzerung ab wie Erbsen von einer Blechbüchse.  Dafür setzt nun ein fürchterliches Feuer aus allen Rohren der Shermans auf uns ein. Ich kann von meiner Stellung aus genau in die Mündung des Geschützrohres vom mittleren Panzer sehen, wenn er es seitlich hin und her schwenkt. Für eine Sekunde scheint dann mein Herz still zu stehen bei der Vorstellung, der Panzerkanonier würde gerade in diesem Augenblick den Abzug bedienen und die Granate müßte dann direkt auf mich zufliegen und mich erbarmungslos in Stücke reißen. Mindestens zehn Mal schaue ich so in die Geschützrohrmündung. Pausenlos schlagen nun die Granaten ein, Splitter sausen schwirrend durch die Luft. Links von mir liegt Obergefr. B., unmittelbar rechts Schütze Oellermann, noch weiter rechts das Maschinengewehr mit dem Richtschützen S. Wir kriechen förmlich in die Erde unter uns und warten auf den Tod. Noch scheint niemand getroffen zu sein, nur der Dreck von den detonierenden Granaten regnet auf uns herab. Plötzlich färbt sich meine linke Hand rot von Blut, ein Splitter hat eine klaffende Wunde an der linken Kante gerissen. Neben mir schreit Oellerman auf: Herr Unteroffizier, ich bin verwundet, meine ganze Seite ist voll Blut. Ich muß sterben, ich bin noch so jung, helfen sie mir! Seine Stimme werde ich mein Leben lang nicht vergessen, so schrecklich hört sie sich an. Ich komme aber nicht zum Nachdenken, denn wie ein elektrischer Schlag zuckt es in  beiden Beinen, Granatsplitter haben mich getroffen, die Sohle vom linken Schuh ist zerfetzt, Blut quillt heraus,  das rechte Hosenbein  quer über die Wade aufgerissen und voller Blut. Neben mir röchelt Oellermann: Jetzt ist es aus …  ich sterbe … meine Heimat … auf Wiedersehen … Mutter. Es klingt in der plötzlich eingetretenen Stille gespenstisch, nur die Panzerketten rasseln beim Wenden der Panzer, die an uns vorbei zu neuen Zielen jagen.

 

Nun sehe ich,  wie amerikanische Infanterie fast im Spazierschritt mit ihren leichten Vogelflinten sich auf uns zubewegen, voran einer mit Sprechfunk, der offensichtlich den Lagebericht nach hinten gibt, dass die Germans besiegt sind. Tatsächlich sehe ich mich mit anderen Verwundeten meiner Gruppe allein, es ist wohl einigen von uns gelungen, sich abzusetzen und der Gefangennahme zu entgehen. Ein Sani taucht plötzlich auf und winkt uns zum Kellereingang des Hauses. Ich krieche mit Mühe die paar Meter vorwärts und werde mit Hilfe des Sanis irgendwie die Treppe hinunterbugsiert. Im Keller sind verängstigte Zivilisten und mehrere verwundete Kameraden. Über uns poltern die Amis ins Haus, einer von ihnen ruft mit starkem Akzent aber verständlich die Treppe hinunter: Rauskommen, wir  sprengen das Haus in die Luft!. Wer kann, bewegt sich nun die Treppe hinauf, wobei uns klar ist, dass das mit der Sprengung nicht so ernst zu nehmen ist, wobei natürlich schon eine von den Amis geworfene Handgranate ein Massaker in dem kleinen Keller angerichtet hätte. Irgendwie gelingt es auch mir, die Treppe hochzukriechen, als letzter. Oben stehen unsere Sieger, und wir hören zum ersten Mal ihr ständig  gebrülltes Kommando Let´s go! Let´s go! Fucking Naziboys!

 

Zum Sammelplatz  sind es zum Glück nur  wenige Meter. Dort sitzen viele Kameraden unserer Kompanie mit hinter dem Kopf verschränkten Händen, darunter auch der Kompaniechef Ltn. R. Etwa zehn Verwundete erkenne ich, auch Oellermann, der sich aber nicht rührt. Mein Freund Erwin ist nicht dabei. Inwischen haben die Amis begonnen, uns zu filzen. Auch ich werde Uhr und Taschenmesser los. Für die zwei Eihandgranaten interessieren sie sich nicht, ich muß sie heimlich loswerden, um nicht noch in den Verdacht zu geraten, die Amis damit angreifen zu wollen.  Nach kurzer Zeit werden die Unverwundeten abgeführt. Für uns Verwundete erscheint nach einiger Zeit ein gepanzerter SANKRA, in den die gehunfähigen  Kameraden verfrachtet werden, ich muß mich vorn in das  Tarnnetz einkrallen, was mit einer verwundeten Hand und zwei verwundeten Beinen nicht einfach  und sehr schmerzhaft ist, zumal  es in ziemlich hohem Tempo quer durchs Gelände geht, das immer noch Kampfgebiet ist. Einige Granaten detonieren vor und hinter uns, verirrte Kugeln pfeifen durch die Luft, das groß gemalte ROTE KREUZ  auf unserm Fahrzeug interessiert die Schützen offensichtlich nicht. Dass ich die Fahrt heil überstanden habe, ist  ein weiteres Wunder des Tages.

 

Schließlich ist der Hauptverbandsplatz erreicht. Hier gibt es keine Freunde und Feinde mehr. Alle werden gleich behandelt. Der Ton ist freundlich. Der amerikanische Arzt fragt, ob ich Schmerzen habe; eine Nurse bietet mir eine Zigarette an. Bei der Registrierung kann ich noch die Angaben für den bewußtlosen  Oellermann machen. Schließlich erhalten wir eine Tasse Bohnenkaffe mit Milch und Zucker und herrliche Weißbrotschnitten mit Butter. In dem dankbaren Bewußtsein, diesen schrecklichen Krieg zunächst überlebt zu haben, falle ich auf der Krankentrage in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung.

                                                             Nach Tagebuchnotizen niedergeschrieben.

 

Ein Gedanke zu “Der 18. September 1944 – Mein zweiter Geburtstag

  1. Lieber Vati!

    So habe ich das von Dir noch nie gehört! Der Bericht hat mich sehr ergriffen!
    Danke, dass Du ihn niedergeschrieben hast!!!!

     

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